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Manche Menschen haben atmende Lieder

Über Liveplatten wird selten geschrieben, zumindest Rezensionen. Das ist insofern ok, als es darauf meist kein neues Material zu entdecken gibt. Und doch bergen Konzertmitschnitte auch immer so etwas wie eingefangenen emotionalen Sonnenschein, manchmal auch Regen und Graupelschauer.

 

Jedenfalls ist ein gutes Livekonzert durchdringend genug, um unter die Haut zu gehen und im besten Fall sogar tiefer zu berühren als manche sorgsam austarierte Studioaufnahme. Also, warum nicht auch darüber reden?

 

Eine Soloplatte live, eine mit Macken, Ecken und Kanten, rauh, reif und windelweich, erscheint am 19. April, ganz ohne Getöse. Sie heißt Solo Live, wurde kurz vor Weihnachten 2023 in der Kölner Kulturkirche aufgenommen, läuft unter dem Label Fortuna Ehrenfeld, ist aber ein Solokonzert von Bandgründer Martin Bechler. Und wer ein bisschen Vertrauen in mich oder in die Juroren des Deutschen Kleinkunstpreises hat, die Fortuna Ehrenfeld im Mai in der Kategorie Chanson/Lied auszeichnen werden, der kann was erleben.


Es steckt viel Arbeit und Disziplin darin, ein Konzert so klingen zu lassen wie spontan aus dem Ärmel geschüttelt. So, als ob sich ein Freund an einem geselligen Abend aus der Laune heraus irgendwann ans Klavier setzt und sich einfach freizuspielen beginnt. Doch genauso fühlt es sich hier an.


An diesen vorweihnachtlichen Abenden dominierten – natürlich, möchte man sagen – die ruhigen, nachdenklichen Töne und Worte. Selbst aus dem mit der Band zur stadiontauglichen Hymne aufgepimpten „Das Imperium schlägt zurück“ oder dem Band-Klassiker „Glitzerschwein“ werden für den Moment leicht beschleunigte, aber verspielt-reduzierte Klavier-Balladen.


Das beweist, dass Martin Bechlers Lieder nicht von einem Arrangement abhängig sind. Sie funktionieren durchgestylt, überdreht, verpoppt und im wilden Konfettiglanz. Sie bezaubern aber genauso, wenn sie für die Einmann-Besetzung großzügig entkernt werden. Nur, dass sich Lieder selten so ungeniert roh zeigen dürfen, wie sie (wohl) entstanden sind – am Klavier oder der Gitarre, ganz ohne Rüschen, Spitzen, Tüdelü und technischen Firlefanz.


Das ist eine gute Nachricht. Denn der Fortuna-Songwriter hat offensichtlich genügend Vertrauen in sich und seine Kunst, dass er seine Lieder atmen und sich frei entwickeln lassen kann. Wie weit das geht, lässt sich kaum besser illustrieren als am Gastauftritt von Anna Fuchs für „Die Durchnummerierten im Irish“. Anna ist Fan und keine Sängerin. Doch bei einem kleinen Karaoke-Konzert, das Bechler Ende 2022 für Fans gestaltete, stand sie mal nicht lauthals singend im Publikum, sondern auf der Bühne. Und verlieh dem Lied dort etwas Besonderes.


Obwohl sie das beim Auftritt in der Kulturkirche nicht ganz wiederholen konnte, versteckt Bechler diesen Moment nicht vor einem größeren Publikum, sondern lässt ihn für die Ewigkeit in Vinyl kratzen. Das Lied ist nicht perfekt, sicher auch nicht „gut“ gesungen. Aber darum geht es in einem Moment nicht, wo Kunst und Publikum eins werden. Es steckt so viel Liebe drin in diesem Auftritt, soviel Kraft, Enthusiasmus, Zerbrechlichkeit, dass es fraglos zum perfekt-unperfekten Soundtrack für die in dem Lied besungene Kneipenzweckgemeinschaft wird. Und das ist am Ende nichts weniger, als auch der Fortuna-Frontmann mit den Mitteln eines professionellen Musikers aus seinen Songs herausholen kann.


An diesem Abend spielte Bechler einige Stücke, die live kaum zu hören sind. Dazu gehören etwa „Grazie de la Kotze“ mit der inzwischen aus der Band ausgestiegenen Jenny Thiele als Gesangsgast oder das bis auf die Titelzeile instrumentale und heilsame Stück „And it takes the pain away“.
Dafür haben es manch großartige „Piano-Man“-Songs gar nicht auf die 26 Stücke starke Zusammenstellung geschafft. Denn die kommt erstaunlicherweise spielend ohne die fein beobachteten Kölner Bilderbögen „Guten Morgen Ehrenfeld“ und „Brüsseler Platz“ aus.


Was beweist, dass da mehr Potenzial im rasant wachsenden Bechler-Liederrucksack schlummert, als man bisweilen auf dem Schirm hat. Dazu gehört auch der Ausflug ins klassische Fach, mit Unterstützung der befreundeten Bläsergruppe aus Haldern entspringt ein Ros‘, „Es kommt ein Schiff geladen“ und das Adventslied „Tochter Zion“ erklingt als Ouvertüre. Hier baut ganz sicher niemand eine perfekte Popwelt auf, um mehr Platten zu verkaufen oder streamingfähig zu sein. Hier macht jemand konsequent sein Ding. Martin Bechler nimmt das Publikum mit auf seine Reise und erlaubt ihnen auch mal, Hand an die Segel zu legen. Und das macht er so, dass man ihm immer wieder zuhören mag.


Und ja, es gibt dann doch auch drei neue Lieder auf dieser Platte, zumindest welche, die es noch nicht auf eine der Fortuna-Studioalben geschafft haben: das schwarzhumorige „Fucking it up round christmas time“ und das an klassische Kirchenmusik angelehnte „Schau mein Bruderherz ich blute“, in dem es um den Verlust eines geliebten Menschen geht.

Und zum Finale der Platte die ultimative Hamburger Kiez- und Hafen-Liebeserklärung „Auf St. Pauli ist der Abendstern gebor‘n“, ein in viel Melancholiepapier gewickelter Slow-Shanty, der seine Wirkung bei Herzmenschen nicht verfehlt.

 

Fortuna Ehrenfeld: Solo Live in der Kulturkirche, tonproduktion records